Gewalt in der Pflege
In den Medien machen immer wieder Schlagzeilen über Misshandlungen und Gewalttaten in Pflegeheimen die Runde. Es wird darüber berichtet, wie Heimbewohner mit Medikamenten ruhiggestellt, geschlagen oder an ihren Betten fixiert werden. Doch Gewalt hat viele verschiedene Gesichter.

Gerade im Bereich der Pflege, in der sich Menschen regelmäßig in der Privat- und Intimsphäre Dritter bewegen, nimmt Gewalt häufig subtile, erst auf den zweiten Blick erkennbare Formen an.
So sind die Missachtung des Willens, die Verletzung des Schamgefühls, die soziale Isolierung, ein Essensentzug oder mangelhafte Hygienebedingungen genauso Gewaltformen wie körperliche Gewalt.
Hinzu kommt, dass Gewalt in der Pflege insgesamt ein weitverbreitetes Phänomen ist. Sie kommt keineswegs nur in Pflegeheimen vor, sondern findet auch im privaten Bereich statt. Außerdem kann die Gewalt von beiden Seiten ausgehen, vom Pflegepersonal ebenso wie vom Pflegebedürftigen.
Inhalt
- 1 Gewalt in der Pflege, ausgehend vom Pflegebedürftigen
- 2 Gewalt in der Pflege, in Pflegeheimen
- 3 Gewalt in der Pflege, im privaten Bereich
- 4 Gewalt in der Pflege – erkennen, verhindern, handeln
- 4.1 Welche Gewaltformen treten in der Pflege auf?
- 4.2 Frühwarnzeichen: Woran erkennst du eskalationsgefährdete Situationen?
- 4.3 Häufige Auslöser von Aggression – und wie man sie reduziert
- 4.4 Prävention: Ein Schutzkonzept auf drei Ebenen
- 4.5 Deeskalation im Akutfall – Leitfaden in 6 Schritten
- 4.6 Rechtlicher Rahmen (Deutschland) – kompakt und praxisnah
- 4.7 Angehörige: mit im Boot, ohne sich zu verausgaben
- 4.8 Team-Resilienz und Selbstschutz
- 4.9 Dokumentation & Beschwerdemanagement: niedrigschwellig, sicher, lernend
- 4.10 Schnellcheck – Anzeichen, dass ihr Kurskorrektur braucht
- 4.11 Mini-FAQ
- 4.12
- 4.13 Ähnliche Beiträge
Gewalt in der Pflege, ausgehend vom Pflegebedürftigen
Ein Mensch, der infolge einer Erkrankung, eines Unfalls oder einfach seines fortgeschrittenen Alters zum Pflegefall geworden ist, hat exakt die gleichen Grundbedürfnisse wie jeder andere, gesunde Mensch auch.
Doch im Unterschied zu früher kann der Pflegebedürftige seinen Bedürfnissen nicht mehr selbst nachkommen, sondern ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Was früher selbstverständlich war und mühelos klappte, geht jetzt auf einmal nicht mehr.
An diese veränderte Lebenssituation muss der Pflegebedürftige gewöhnen. Er muss sich seine Situation eingestehen, die neuen Umstände akzeptieren und lernen, Hilfe anzunehmen.
Kann der Pflegebedürftige in seinem vertrauten Umfeld bleiben, muss er damit klarkommen, dass nun ständig Angehörige oder Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes in seine Wohnung kommen.
Sie halten sich in seinen Räumen auf, stellen vielleicht Möbelstücke um und schauen in seine Schränke. Sie haben ihre eigene Art, Kleidung zusammenzulegen, die Kissen aufzuschütteln, das Bett zu machen oder das Essen zuzubereiten.
Der Pflegebedürftige ist zwar in seinem vertrauten Umfeld, aber trotzdem ist alles anders. Kann der Pflegebedürftige nicht zu Hause betreut werden, muss er sich nicht nur mit der neuen Situation anfreunden, sondern sich auch noch in einem ganz neuen Umfeld zurechtfinden.
Der Verlust der Privat- und Intimsphäre, der neue Rhythmus und generell die veränderte Lebenssituation machen vielen Pflegebedürftigen Angst. Sie fühlen sich hilflos, manchmal auch verzweifelt oder wütend.
Einige schämen sich, andere sind frustriert und wieder andere völlig verwirrt. Alle diese Gefühlslagen können in Aggression umschlagen. Sie kann sich gegen die Angehörigen, das Pflegepersonal, die Mitbewohner im Heim oder auch gegen sich selbst richten.

Gewalt in der Pflege, in Pflegeheimen
Die stationäre Pflege basiert auf einem Pflegesystem, das wenig Spielraum lässt. Die Abläufe sind straff organisiert und die Zeiten, die für die Pflege jedes Bewohners vorgesehen sind, genau festgelegt.
Damit das knapp bemessene Budget ausreicht, muss nicht selten an Pflegepersonal gespart werden. Für die Menschlichkeit bleibt da wenig Raum und Zeit.
Erschwerend kommt hinzu, dass den Beteiligten oft nicht bewusst ist, dass sie sich in einem Grenzbereich bewegen und die Situation jederzeit in Aggression umschlagen kann.
So fängt es mitunter damit an, dass das Pflegepersonal einfach so und ohne vorher anzuklopfen ins Zimmer kommt oder der gestressten Pflegekraft immer häufiger das „Du“ herausrutscht („Jetzt stell dich nicht so an!“).
Weil die Zeit teilweise nicht ausreicht, um jeden Heimbewohner beim Gang auf die Toilette zu begleiten, werden vorsorglich Windeln angelegt. Um zu vermeiden, dass ein Heimbewohner wegen jeder Kleinigkeit oder auch aus Langeweile eine Pflegekraft ruft, wird der Rufknopf abgeschaltet.
Das Pflegeheim gibt vor, wann ein Heimbewohner aufstehen, seine Morgentoilette erledigen, sich anziehen, essen und schlafen gehen muss.
Für einige Heimbewohner sind solche klar geregelten Abläufe sehr wichtig, andere fühlen sich bevormundet und kommen überhaupt nicht damit zurecht.
Berichte über Missstände in Pflegeheimen und Bewohner, die mit Medikamenten ruhiggestellt, am Bett fixiert, angeschrien und geschlagen werden, sind mitunter die Folge.

Gewalt in der Pflege, im privaten Bereich
Im privaten Umfeld ist Überforderung die Hauptursache für Gewalt in der Pflege. Angehörige, die einen Pflegebedürftigen versorgen, sind in den wenigsten Fällen ausgebildetes Pflegepersonal.
Das Zusammenspiel aus fehlendem Wissen, nicht vorhandener Erfahrung und einer oft ungewohnten körperlichen Nähe führt zu Stress.
Manchmal stellen sich Schamgefühle, Mitleid oder gar Ekel ein, oft kommt die Angst, etwas falsch zu machen, dazu. Der Pflegebedürftige fordert und hält sein Umfeld auf Trab.
Die Pflegeperson muss mit der zusätzlichen Belastung zurechtkommen und ihren Alltag neu organisieren. All das kostet viel Kraft. Zudem müssen sich alle Beteiligten an die neue Rollenverteilung im Familiengefüge gewöhnen.
Natürlich lässt sich Gewalt nicht damit entschuldigen, dass der Pflegebedürftige oder die Pflegekraft überfordert ist oder einen schlechten Tag hatte.
Genauso darf selbstverständlich nicht weggeschaut werden, wenn es zu einer Gewaltsituation gekommen ist. Es wäre aber zu einfach und vor allem ungerecht, schnelle Schuldzuweisungen und Verurteilungen auszusprechen.
Entscheidend ist vielmehr, dass der Kreislauf durchbrochen wird. Dazu wiederum gehört, sich in die Situation aller Beteiligten hinzuversetzen und zu versuchen, ihre Gefühlslagen zu verstehen.
Nur so lässt sich herausfinden, woher die Aggressionen kommen. Erst wenn das Verständnis für den jeweils anderen gegeben ist, ist die Basis vorhanden, um einen gemeinsamen Weg zu entwickeln.

Gewalt in der Pflege – erkennen, verhindern, handeln
Welche Gewaltformen treten in der Pflege auf?
„Gewalt“ umfasst mehr als Schläge oder Fixierungen.
In der Praxis zeigen sich fünf Kategorien:
- Körperliche Gewalt: grobes Anfassen, Kneifen, Schubsen, unangemessene Fixierungen.
- Psychische/verbale Gewalt: Anschreien, Drohen, Beschämen, Ignorieren, entmündigende Sprache.
- Strukturelle Gewalt: starre Abläufe, Personalknappheit, Zeitdruck, fehlende Privatsphäre – Verhältnisse, die Würde verletzen, obwohl „niemand etwas Böses will“.
- Vernachlässigung/unterlassene Hilfe: Unterkühlung, Dekubiti, Dehydrierung, fehlende Analgesie, mangelhafte Hygiene.
- Chemische Fixierung: sedierende Medikamente ohne ausreichende Indikation oder ohne informierte Einwilligung.
Frühwarnzeichen: Woran erkennst du eskalationsgefährdete Situationen?
- Beim Pflegebedürftigen: plötzliche Angst/Vermeidung bestimmter Personen, Hämatome ohne klare Ursache, Rückzug, auffällige Sedierung, Ruf nach Hilfe, verändertes Ess-/Schlafverhalten.
- Im Team: zynischer Humor, „funktionieren statt verstehen“, steigende Kranktage, Erschöpfung, vermehrte Konflikte.
- In der Organisation: dauerhaftes Unterbesetzen, abgeschaltete Klingeln, fehlende Fortbildungen, Beschwerden versanden.
Kurzer Selbstcheck: „Würde ich diese Maßnahme meinem Angehörigen zumuten?“ – Wenn nein, innehalten.

Häufige Auslöser von Aggression – und wie man sie reduziert
- Schmerz, Delir, Demenz: Unruhe ist oft Symptom, nicht „Ungehorsam“. Schmerzscreening, orientierende Kommunikation, Validation und Reizreduktion helfen.
- Verlust von Kontrolle & Scham: Schrittweise erklären, Optionen anbieten („Möchtest du jetzt oder in 10 Minuten baden?“), Intimsphäre konsequent wahren.
- Kommunikationsbrüche: einfache Sprache, Blickkontakt, langsames Tempo, eine Aufgabe nach der anderen.
- Umgebung: Licht, Lärm, Gerüche, Wegeführung – kleine Änderungen senken Stress erheblich.
Prävention: Ein Schutzkonzept auf drei Ebenen
Organisation: klare Leitlinien gegen Gewalt, Beschwerdewege sichtbar machen, anonym melden ermöglichen, feste Deeskalationsstandards, ausreichende Personal-/Qualifikationsplanung, Architektur mit Rückzugsräumen.
Team: Schulungen zu Demenz/Delir/Schmerz, Deeskalations-Trainings, Fallbesprechungen, Supervision, kollegiale Beratung, Stop-Regeln („Zwei-Pflegekraft-Prinzip“ bei heiklen Maßnahmen).
Individuum: Psychohygiene, Pausen ernst nehmen, Trigger kennen, Grenzen benennen, Gefährdungsanzeige bei dauerhaft riskanten Rahmenbedingungen.
Deeskalation im Akutfall – Leitfaden in 6 Schritten
- Stopp – Lage checken: Eigene Sicherheit, Abstand, ruhiger Ton.
- Orientieren: Name nennen, kurze Botschaft („Ich bin da, ich helfe dir“), Reizreduktion.
- Benennen: Gefühl spiegeln („Das wirkt gerade beängstigend/ärgerlich.“).
- Wahlmöglichkeiten geben: kleine, echte Optionen.
- Zeit: Schweigen aushalten, Tempo senken, nonverbale Beruhigung (Atmung).
- Backup holen: zweite Person dazu, ggf. Raumwechsel – nie „Machtkampf“.
Nachsorge: kurz dokumentieren, auslösendes Muster identifizieren, Team-Debrief (Was hilft nächstes Mal?).

Rechtlicher Rahmen (Deutschland) – kompakt und praxisnah
- Einwilligung & Aufklärung: Pflegehandlungen brauchen Einwilligung; bei fehlender Einsichts-/Einwilligungsfähigkeit: gesetzliche Vertretung/Betreuung einbeziehen.
- Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM): z. B. Bettgitter, Fixiergurte, sedierende Medikation – nur bei akuter erheblicher Eigen-/Fremdgefährdung, so kurz wie möglich, verhältnismäßig, mit richterlicher Genehmigung, soweit nicht ausnahmsweise „Gefahr im Verzug“.
- Medikamentengabe: keine „Ruhigstellung“ als Organisationsersatz; Indikation, Dosis, Wirkung/Nebenwirkung und Alternativen dokumentieren.
- Dokumentation & Schweigepflicht: sachlich, zeitnah, frei von Schuldzuweisungen; Wahrheits- und Nachvollziehbarkeitsprinzip.
- Meldewege: akute Gefahr → 112/Polizei; wiederholte Missstände → Heimaufsicht/Pflegekassen/MD; intern → Beschwerdemanagement, Ombudsstelle.
Angehörige: mit im Boot, ohne sich zu verausgaben
- Rollen klären: Was übernehme ich realistisch? Was leistet der Dienst/das Heim?
- Belastung senken: Kurzzeit-/Verhinderungspflege, Tagespflege, Pflegekurse der Kassen, Selbsthilfegruppen, Beratung vor Ort (Pflegestützpunkte).
- Kommunikation: feste Ansprechpartner, Gesprächsprotokolle, Wünsche schriftlich festhalten.
- Eigene Grenzen achten: Wer gut für sich sorgt, kann gut sorgen.
Team-Resilienz und Selbstschutz
- Stop-Sätze etablieren („Ich pausiere 2 Minuten und komme respektvoll wieder“).
- Debriefings nach Vorfällen, Supervision zyklisch, Rotationspläne bei „Hot-Spots“.
- Mikro-Routinen: Wasser, Atmen, Schulter lösen, kurze „Reset-Wege“.
- Qualitätsschleife: Vorfall → Analyse → Präventionsschritt im Alltag verankern.
Dokumentation & Beschwerdemanagement: niedrigschwellig, sicher, lernend
- Einfacher Zugang: sichtbare Aushänge, QR-Code-Formulare, anonyme Option.
- Standardfelder: Was, wann, wer, Kontext, Maßnahme, Ergebnis, nächster Schritt.
- Rückmeldungspflicht: „Feedback zum Feedback“ innerhalb fester Frist.
- Lernen im System: Häufungen erkennen (Zeit, Ort, Maßnahme), Ursachen beheben – nicht nur „Vorfälle zählen“.

Schnellcheck – Anzeichen, dass ihr Kurskorrektur braucht
- Mehr Stürze/Dekubiti, mehr PRN-Sedierung, häufige Nachtunruhe ohne Ursachenarbeit.
- Beschwerden bleiben ohne Antwort.
- „So machen wir das immer“ ersetzt fachliche Begründung.
- Neue Mitarbeitende übernehmen riskante Aufgaben ohne Einarbeitung.
Mini-FAQ
Ist Windelversorgung statt Toilettengang Gewalt?
Wenn sie aus Organisationsgründen dauerhaft das Bedürfnis nach Toilette ersetzt und Autonomie nimmt: strukturelle Gewalt.
Sind beruhigende Medikamente erlaubt?
Ja, bei klarer Indikation, dokumentiert, verhältnismäßig – keine Organisationskompensation.
Darf ich Fixierungen einsetzen?
Nur unter strengen Voraussetzungen (Gefahr, Verhältnismäßigkeit, richterliche Genehmigung) und so kurz wie möglich.
Mehr Tipps, Anleitungen und Informationen zur Pflege & Hilfe:
- Das richtige Pflegeheim
- Was sind Hilfsmittel und wer hat Anspruch darauf?
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- Barrierefreies Wohnen – Was Mieter beachten müssen
- Wichtige Infos zur Vorsorgevollmacht
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Thema: Gewalt in der Pflege
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