Der männliche Patient als Standard in der Medizin

Der männliche Patient als Standard in der Medizin

Der medizinische Standardpatient ist 1,75 Meter groß, 79 Kilogramm schwer, körperlich fit – und männlich. Lange Zeit wurden Studien für Medikamente nahezu ausschließlich an männlichen Probanden durchgeführt. Auch viele Krankheiten, von denen typischerweise Frauen betroffen sind, sind bisher kaum erforscht. Doch warum ist das so? Warum konzentrieren sich die Medizin und die Forschung auf den Mann? Welche Folgen hat das für Patientinnen? Und wie ließe sich das ändern?

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Der männliche Patient als Standard in der Medizin

Der männliche Patient als Standard in der Medizin

Nachdem eine junge Frau seit mehreren Wochen unter massiven Schlafproblemen leidet, wendet sie sich an ihren Arzt. Er verordnet ihr ein Schlafmittel und empfiehlt, die Standarddosis von einer Tablette jeden Abend einzunehmen.

Die Frau kann nach der Einnahme des Medikaments zwar wunderbar schlafen, baut morgens auf dem Weg zur Arbeit aber einen schweren Autounfall, bei dem sie ums Leben kommt. Die Ursache ist letztlich eine zu hohe Dosis des Schlafmittels. Denn die Standarddosis wurde nicht für Frauen, sondern für Männer ermittelt.

Dieses drastische Beispiel ist zwar fiktiv, aber keineswegs abwegig. Tatsächlich kam es vor einigen Jahren vermehrt zu Autounfällen, nachdem Frauen und Männern dieselbe Dosis eines Schlafmittels verordnet wurde.

Inzwischen ist bekannt, dass Frauen das Medikament wesentlich langsamer abbauen und dadurch am nächsten Morgen noch eine größere Menge des Wirkstoffs im Blut haben.

Solche Behandlungsfehler bei Patientinnen sind keine Seltenheit. Denn in der Medizin gilt noch immer der männliche Patient als Standard. An klinischen Studien nehmen hauptsächlich junge Männer teil und bei Labortests arbeiten die Forscher mit jungen männlichen Mäusen.

Biologische Unterschiede werden ignoriert und Frauen aus medizinischer Sicht so behandelt, als wären sie Männer. Sogar in Lehrbüchern scheint der Mensch ein geschlechtsneutrales Wesen zu sein.

Begründet wird die gängige Testpraxis oft mit hormonellen Unterschieden. Denn während der männliche Testosteronspiegel die ganze Zeit über vergleichsweise konstant bleibt, treten bei Frauen zyklusbedingte Hormonschwankungen auf.

So ist der Östrogenspiegel zum Beispiel während der Periode sehr niedrig und erhöht sich danach stetig.

Hormonell bedingt können Frauen zudem unterschiedlich auf Medikamente reagieren. Um Komplikationen zu vermeiden, ziehen die Pharmafirmen in ihren Studien deshalb männliche Testpersonen vor.

Fatale Folgen für Frauen

Der medizinische Männerfokus hat mitunter gravierende Folgen für die weibliche Gesundheit. So kommt es immer wieder zu Überdosierungen von Medikamenten. Außerdem wirken einige Medikamente bei Frauen komplett anders.

Aus diesem Grund treten bei weiblichen Personen auch bis zu 1,5-mal häufiger medikamentöse Nebenwirkungen auf als bei Männern.

Ein extremes Beispiel ist ein häufig verschriebenes Herzmedikament, das das Leben von Frauen nachweislich verkürzt, während es auf die Lebensdauer von Männern keinen Einfluss hat.

Daneben unterscheiden sich Krankheitssymptome je nach Geschlecht. Klagt zum Beispiel ein Mann über Schmerzen in der Brust, die bis in den linken Arm strahlen, dürften die meisten alarmiert sein. Denn diese Symptome sind typisch für einen Herzinfarkt.

Bei einer Frau hingegen kündigt sich ein Herzinfarkt oft durch Übelkeit und Schmerzen im Oberbauch, Hals und Kiefer an. Doch bei solchen Beschwerden denken nur wenige an die Herzerkrankung.

Die Unkenntnis der geschlechtsspezifischen Vorboten hat zur Folge, dass Frauen mit einem Herzinfarkt im Durchschnitt zwei Stunden später ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das führt leider auch dazu, dass die Sterblichkeitsrate bei Frauen im Zusammenhang mit Herzerkrankungen höher ist als bei Männern.

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Problematische Geschlechtsunterschiede auch für Männer

Dass die Medizin wenig auf geschlechtsspezifische Unterschiede achtet, hat aber auch für Männer nachteilige Folgen. Ein Beispiel dafür sind Depressionen. Bis heute hält sich die Erwartungshaltung in der Gesellschaft, dass Männer stark sein und die Herausforderungen des Lebens meistern sollen.

Um den sozialen Ansprüchen gerecht zu werden und nicht als Schwächling oder Versager dazustehen, wenden sich depressive Männer seltener an einen Psychologen.

Das ist mit ein Grund dafür, warum die Erkrankung bei Frauen doppelt so oft diagnostiziert wird.

Dazu kommt, dass sich Depressionen bei Männern oft anders äußern. Während depressive Frauen eher traurig sind, Ängste entwickeln und sich sozial zurückziehen, neigen Männer stärker zu einem aggressiven Verhalten, einer übertriebenen Risikobereitschaft und dem Missbrauch von Alkohol oder Drogen.

Eine Konsequenz davon ist, dass die Suizidrate bei Männern drei- bis fünfmal höher ist als bei Frauen.

Gendermedizin auf dem Vormarsch

Die gute Nachricht ist, dass das Bewusstsein für das Ungleichgewicht in der Medizin zwischen den Geschlechtern wächst. Immer mehr Stimmen verlangen, dass die medizinische Behandlung die biologischen Unterschiede berücksichtigen muss.

Mittlerweile steigt die Einsicht für die Notwendigkeit, die Prävention, die Diagnose und die Therapie auf die unterschiedlichen hormonellen Phasen abzustimmen.

Sogar in der Politik ist die sogenannte Gendermedizin inzwischen angekommen.

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So hieß es dazu im Koalitionsvertrag der vergangenen Ampel-Regierung:

„Wir berücksichtigen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung und bauen Diskriminierungen und Zugangsbarrieren ab.“

In einigen Ländern wie zum Beispiel Österreich ist die Gendermedizin mittlerweile ein fester Bestandteil im Medizinstudium und im praktischen Jahr. Und das erfreuliche Ergebnis ist, dass das Bewusstsein für Geschlechterunterschiede in der Medizin seitdem bei den Studenten, den Ärzten und auch den Patienten immer größer wird.

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